Auslaufmodell Ehe?
Dr. Claudia M. Mordasini, Advokatin, Fachanwältin Familienrecht, Mediatorin SAV
Im Zeitraum November 2020 bis Februar 2021 hat das Bundesgericht wichtige Bereiche des (nach-)ehelichen Unterhaltsrechts weiterentwickelt, was in der Presse hohe Wellen schlug. Man las Schlagzeilen wie «Die Ehe ist für Frauen keine Lebensversicherung mehr», «Männer müssen nach der Scheidung weniger Unterhalt bezahlen», «Planen Sie die Scheidung vor der Ehe», oder «Das Bundesgericht erfindet die Ehe neu».
Hintergrund dieser Entwicklung bilden eine Kette von primär vier Unterhaltsentscheidungen. Als erster Entscheid dieser «Kette» definiert BGer 5A_907/2018 vom 3.11.2020 den Begriff der Lebensprägung einer Ehe mit grundsätzlich sechs kumulativen Voraussetzungen neu und setzt damit die Messlatte des Anspruchs auf die Beibehaltung des ehelich gelebten Standards künftig höher an. Zudem werden explizit drei Ebenen der Prüfung des Unterhaltsanspruchs gefordert (Lebensprägung / gebührender Unterhalt, Eigenversorgungskapazität und Angemessenheit). Die letzte Stufe gewinnt dabei neu an Wichtigkeit: Einmal berechnete Unterhaltsrenten seien insbesondere in zeitlicher Hinsicht zu limitieren. Mit BGer 5A_311/2019 vom 11.11.2020 und BGer 5A_891/2018 vom 2.2.2021 hielt das Bundesgericht sodann fest, zur Berechnung sämtlicher Arten von Unterhalt sei grundsätzlich die sogenannte zweistufige Methode mit Überschussverteilung anzuwenden. Die einstufig-konkrete Methode sei nur noch ausnahmsweise bei finanziell ausserordentlich guten Verhältnissen denkbar, wobei deren Anwendung eine Begründungspflicht nach sich ziehe. Schliesslich wurde mit BGer 5A_104/2018 vom 2.2.2021 die sogenannte «45er-Regel» im Zusammenhang mit der Wiederaufnahme einer Erwerbstätigkeit der unterhaltsberechtigten Person aufgegeben. Neu sei grundsätzlich von der Zumutbarkeit eines Vollpensums auszugehen, soweit eine solche Möglichkeit tatsächlich bestehe und keine Hinderungsgründe wie namentlich die Kinderbetreuung (nach dem Schulstufenmodell) vorliegen.
Welche Schlüsse lassen sich aus diesen bundesgerichtlichen Weiterentwicklungen ziehen? Neu ist die Qualifikation der Ehe als eine lebensprägende nicht mehr schematisch nach Vermutungen (10-jährige Ehe und/oder Kinder) zu prüfen. Zudem ist die Lebensprägung restriktiver zu bejahen, wobei die Definition des Bundesgerichts kaum wörtlich auszulegen ist. Auf einer zweiten Ebene werden die Anforderungen an die sogenannte Eigenversorgungskapazität erhöht und die Frage nach der Zumutbarkeit verliert dabei an Bedeutung. Die Voraussetzungen auf einen nachehelichen Unterhalt werden dadurch weiter verschärft. Auf einer dritten Ebene ist der einmal berechnete Unterhaltsbeitrag wohl in zeitlichen Phasen (stufenweise) auf ein «angemessenes» Niveau zu kürzen. Renten bis zum AHV-Alter werden dadurch neu zur Ausnahme. Das richterliche Ermessen im Rahmen dieser Angemessenheitsprüfung wird gross sein. Schliesslich haben die genannten drei Ebenen der Unterhaltsprüfung neu fast ausschliesslich in der zweistufigen Berechnungsmethode mit Überschussverteilung Niederschlag zu finden. Die Auffassung des Bundesgerichts, dass diese Berechnung das Unterhaltsrecht vereinfache, trifft kaum zu. Ein Abweichen von der neuen Regelmethode sollte möglich sein, wenn eine sogenannt einstufige Berechnung der Sache im Einzelfall besser dient und prozessökonomischer ist.
Unabhängig davon, dass eine Unterhaltsberechnung stets eine Scheingenauigkeit mit sich bringt und praxistauglich sein sollte, darf künftig nicht vergessen gehen, dass viele Ehen mittleren Alters konservativ gelebt wurden. Die unterhaltsberechtigten Personen, meist Ehefrauen und Mütter, haben dabei der bisherigen Praxis und damit dem Charakter der Ehe als Versorgermodell vertraut. Dieses Vertrauen in das bisher gelebte Ehemodell darf insbesondere bei längeren Hausgattenehen nicht vergessen gehen und ist angemessen zu würdigen. Darüber hinaus sind die nötigen Infrastrukturen zu garantieren (Teilzeitpensen, zahlbare und genügend vorhandene Drittbetreuungsangebote, steuerliche Attraktivität von Doppelverdiener etc.), damit die «modernen» Überlegungen des Bundesgerichts greifen können.
Bei all diesen Entwicklungen stellt sich die Frage, ob eine Eheschliessung heutzutage überhaupt noch Sinn mache. Zur Beantwortung dieser Frage muss man sich vor Augen führen, dass die Ehe – provokativ ausgedrückt – ein staatlich vorgeschlagener Standardvertrag für den Fall einer künftigen Scheidung ist. Man muss sich als Paar demnach überlegen, ob diese standardisiert vorgesehenen Scheidungsfolgen auf das eigene, angestrebte Lebensmodell passen oder ob individuelle, flexible Lösungen mittels Ehe-/Erbvertrag oder neu auch mittels Scheidungsvereinbarung auf Vorrat (mit vorgängiger Unterhaltsvereinbarung) stimmiger wären. Gegenüber einer nichtehelichen Lebensgemeinschaft sind als hauptsächliche Unterschiede die ehelichen Folgen der Vermögensteilung (sogenanntes Güterrecht), der Teilung der Pensionskassen sowie der Ansprüche im Todesfall hervorzuheben, wobei diese Aspekte auch bei Verzicht auf eine Eheschliessung vertraglich gelöst werden könnten. Die steuerlichen Nachteile für nicht verheiratete PartnerInnen sind allerdings nach wie vor erheblich.
Bei Fragen betreffend Eheschliessung, Ehe-, Konkubinats- und Erbverträge, Scheidungsvereinbarungen auf Vorrat sowie auch Testamente, Vorsorgeaufträge, Generalvollmachten und Patientenverfügungen steht Liatowitsch & Partner Ihnen gerne zur Verfügung.